Annas Wecker klingelt um fünf. Sofort ist sie wach – die Nacht war unruhig, Karl hatte mehrfach nach ihr gerufen. Noch vor Sonnenaufgang macht sie Frühstück, wirft eine Waschmaschine an und legt seine Kleidung bereit. Anna studiert Politikwissenschaften und kümmert sich gleichzeitig alleine um Karl. Als er mit dem Rollator aus dem Schlafzimmer kommt, umarmt sie kurz ihren Vater, bevor sie zur Vorlesung hetzt.
Anna ist kein Einzelfall. Millionen Menschen in Deutschland kümmern sich täglich um andere Menschen; ohne sie würde unsere Gesellschaft keine Sekunde funktionieren. Doch diese Fürsorge, diese Care-Arbeit, bleibt meist unsichtbar und gilt politisch wie gesellschaftlich als Selbstverständlichkeit. Wer Care-Arbeit leistet, trägt ein hohes Risiko für finanzielle Unsicherheit, Nachteile im Beruf und Altersarmut.
Diskriminierung stoppen – Care ins Grundgesetz!
Die Liga für unbezahlte Arbeit e.V. fordert eine Verankerung von Care im Grundgesetz. Dafür hat der Verein eine Petition auf WeAct gestartet, der Petitionsplattform von Campact. Bereits über 66.000 Menschen unterstützen die Forderung an die Bundesministerin für Arbeit und Soziales Bärbel Bas: „Niemand darf wegen seiner familiären* Fürsorgeverantwortung benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Der blinde Fleck der Wirtschaft
Care-Arbeit – pflegen, kochen, organisieren, trösten – hält unsere Gesellschaft Tag für Tag am Laufen. Sie sorgt dafür, dass Kinder betreut und Kranke versorgt sind und Ältere Unterstützung bekommen. Ohne diese Arbeit könnten Millionen Menschen gar nicht erst zur Arbeit gehen. Rechnet man den Wert der Care-Arbeit in Löhne um, wäre das BIP rund 40 Prozent höher – um satte 1,2 Billionen Euro pro Jahr.
Jährlich kommen unglaubliche 117 Milliarden Stunden Care-Arbeit zusammen – fast doppelt so viel wie alle Erwerbsstunden in Deutschland, die bei 60,6 Milliarden liegen. Ein Drittel dieser Care-Arbeit entfällt auf Kinderbetreuung und die Pflege von Angehörigen. Frauen übernehmen mit 28,2 Milliarden Stunden mehr als doppelt so viel wie Männer (12,1 Milliarden).
Gender-Care-Gap
In 65 Prozent aller Paarhaushalte mit Kindern läuft es immer noch nach dem alten Muster: Er arbeitet Vollzeit, sie reduziert auf Teilzeit. Ohne Kinder ist dieses Modell deutlich seltener. Es wirkt wie ein Automatismus, weil „Vollzeit-Vater, Teilzeit-Mutter“ in Deutschland noch immer als Norm gilt. Dabei wünschen sich viele Männer längst etwas anderes: Sie würden gerne rund neun Stunden pro Woche weniger arbeiten – einfach, um mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.
Trotzdem übernehmen Frauen täglich 76 Minuten mehr unbezahlte Care-Arbeit, gut 43 Prozent mehr als Männer. Leben kleine Kinder im Haushalt, steigt der Unterschied sogar auf über 80 Prozent. Mit der Geburt des ersten Kindes verfestigt sich diese Ungleichheit massiv: 73 Prozent der Mütter mit Kindern unter drei Jahren arbeiten in Teilzeit, aber nur 9 Prozent der Väter.
Das summiert sich über Jahre zu einer Entscheidung, die ihr gesamtes Leben prägt. Weniger Zeit für Lohnarbeit. Geringeres Einkommen. Lücken in der Rentenbiografie. Frauen verlieren jährlich rund 380 Milliarden Euro an Einkommen im Vergleich zu Männern. Die Folge: eine statistisch vorprogrammierte Armutsfalle. Frauen erhalten im Schnitt 49 Prozent weniger Rente. Wer die notwendige Sorgearbeit übernimmt, zahlt dafür bis heute einen hohen Preis – im Job, im Portemonnaie und im gesamten Lebensverlauf.
Unsichtbar sei Generationen
Auch Anna hat dieses Risiko – und es ist geerbt. Ihre Mutter lebte jahrzehntelang ein Rollenbild, das tief in unserem Wirtschaftssystem verankert ist: Frauen übernehmen selbstverständlich die Sorgearbeit, als kostenlose Ressource für alle anderen. Annas Mutter pflegte Karl jahrelang und versorgte gleichzeitig drei Kinder – unbezahlte Arbeit, unsichtbar und unverzichtbar.
Am Ende hat diese Überlastung sie das Leben gekostet. Für Anna ist das nicht Theorie, sondern Familiengeschichte: ein Erbe aus einer Zeit, in der die Hausfrauenehe gesetzlich verankert war. So wuchs Anna in einem System auf, das ihr schon früh zeigte, wessen Zeit und Kraft als selbstverständlich verfügbar galt – und welche Folgen das haben kann.
Warum wir Care ins Grundgesetz schreiben müssen
Diese Selbstverständlichkeit stellt eine strukturelle Benachteiligung dar. Um das zu ändern, braucht es einen Schritt, der groß genug ist, um die Logik zu drehen: Care-Arbeit muss im Grundgesetz geschützt werden. Dafür haben Jo Lücke und Franzi Helms die Liga für unbezahlte Arbeit gegründet und eine Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, gestartet.
Würde die familiäre Fürsorgeverantwortung als Diskriminierungsmerkmal ins Grundgesetz aufgenommen, hätte das direkte Folgen für alle nachgeordneten Gesetze. Dann müsste auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erweitert werden – und Fürsorgende wären im Arbeits- und Zivilrecht ausdrücklich geschützt. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wäre in solchen Fällen zuständig und müsste Benachteiligungen von Menschen mit Sorgeverantwortung verfolgen.
Was würde das für Anna bedeuten, wenn Care ins Grundgesetz kommt?
Für Anna, die heute noch zwischen Studium und Pflege hin- und herjongliert, könnte sich vieles ändern. Eine gesetzliche Verankerung würde jungen Pflegenden wie ihr den Druck nehmen: längere Studienzeiten ohne Hürden, gezielte Unterstützung statt zusätzlicher Belastung, BAföG statt Grundsicherung – und das alles ohne den Zwang auf ein Urlaubssemester. Vor allem aber erhielte sie dadurch endlich die Anerkennung, die ihre Care-Arbeit verdient.