Kein Zweifel: Unsere Demokratie wird so scharf angegriffen wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Zuletzt hat Trumps neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ für die USA gezeigt, dass die EU als liberale Demokratie zunehmend alleine dasteht. Gleichzeitig agitiert die rechtsextreme AfD im Innern immer aggressiver und gewinnt in Umfragen an Zustimmung.
Teile der etablierten Medien und der demokratischen Parteien greifen nun ausgerechnet jene an, die sich den Angriffen auf unsere Demokratie entgegenstellen: die aktive Zivilgesellschaft. Nur drei Beispiele aus den letzten Wochen: Im hessischen Landtag attackiert die CDU die bundesweiten Proteste gegen die Gründung der AfD-Jugendorganisation in Gießen. Hessens Innenminister Roman Poseck stempelt die weitgehend friedlichen Blockaden kurzerhand als „Gewaltmärsche“ ab.
„Erpressung“ und Entrüstung
Szenenwechsel zur Talkshow von Markus Lanz: Vor Millionenpublikum behauptet der Erbe und Geschäftsführer des dm-Konzerns Christoph Werner, er fühle sich von der Zivilgesellschaft „erpresst“. Denn: Wir als Campact – zusammen mit vielen seiner Kundinnen und Kunden – haben öffentlich kritisiert, dass er einen „freimütigen Dialog“ mit der AfD fordert.
Nächste Station: Bayerischer Rundfunk. Dort sorgten schon ein paar (rückstandslos entfernbare) Info-Aufkleber auf Milchreis-Packungen der Firma Müllermilch für Empörung. Weniger Aufregung erregte dort der Anlass für unsere Aufkleber – die öffentlich zelebrierte Freundschaft des milliardenschweren Müller-Eigentümers mit AfD-Chefin Alice Weidel.
Diese Beispiele zeigen ein Muster: Manche Politiker*innen und Medien skandalisieren zivilgesellschaftlichen Protest, während sie die Ursachen dafür bagatellisieren. Schon nach den bundesweiten Demonstrationen gegen Friedrich Merz‘ gemeinsame Abstimmung mit der AfD im Wahlkampf legte die Unionsfraktion nach. Im Bundestag stellte sie eine Anfrage mit 551 detaillierten Fragen zur Finanzierung von Vereinen wie Omas gegen Rechts, Attac oder der Deutschen Umwelthilfe. Begleitet wurde das Ganze von einer regelrechten Kampagne. Schräge Prioritäten angesichts einer rechtsextremen Partei, die im Bundestag so stark vertreten ist, wie noch nie in der Geschichte unserer Republik.
Fortschritte mussten schon immer erkämpft werden
Aber es geht um mehr: unser grundsätzliches Demokratieverständnis. Proteste gegen das Handeln finanzstarker Unternehmer – insbesondere wenn sie sich für Kooperationen mit Demokratiefeinden öffnen – sind keine Störung der demokratischen Ordnung. Demonstrationen und auch Blockaden gegen eine offen rechtsextreme Partei wie die AfD sind kein Angriff auf die Demokratie. Im Gegenteil: Ziviler Ungehorsam ist ein Kernstück, ja eine historische Voraussetzung unserer Demokratie. Freie Gesellschaften brauchen nicht nur Parlamente und Gerichte, sondern auch Menschen, die Missstände benennen, Macht hinterfragen und immer wieder entschlossen gegen autoritäre Tendenzen mobilisieren.
Das zeigt schon ein Blick in die Geschichte: Demokratie war nie ein harmonischer Stuhlkreis, in dem sich das bessere Argument einfach durchsetzt. Macht und Ressourcen sind ungleich verteilt. Fortschritte – ob Arbeiter-, Frauen- oder Bürgerrechte – mussten häufig genug gegen den erbitterten Widerstand der ökonomisch und politisch Mächtigen erkämpft werden. Und diese demokratischen Erfolge wurden immer auch durch zivilen Ungehorsam errungen: Boykotte, Blockaden, Sitzstreiks.
Das gilt auch in der Bundesrepublik: Ob Abschied von Atomkraft, Kohle oder die langfristige Demokratisierung nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft – nichts davon wären ohne den Mut derjenigen erreicht worden, die manchmal die Straßenverkehrsordnung der Mächtigen ignorierten. Ziviler Ungehorsam ist keine Absage an die Demokratie. Er ist ihr Korrektiv, ihr Frühwarnsystem und oft ihr Motor.
Was sich die Zivilgesellschaft erlauben darf
Selbst der Boykott ist ein legitimes demokratisches Mittel – keine „Erpressung“. Konzerne sind keine demokratischen Institutionen. Sie verfügen über enorme Macht, ohne sich demokratischer Kontrolle zu stellen. Für Konsument*innen ist der Boykott eines der wenigen Mittel, um dieses Machtgefälle zumindest etwas auszugleichen – und ein notwendiges, wenn Konzerne sich Kräften annähern, die unsere demokratische Ordnung zerstören wollen. Artikel 20 unseres Grundgesetzes sieht ausdrücklich das Recht auf Widerstand gegen die Abschaffung der Demokratie vor.
Wer heute die aktive Zivilgesellschaft delegitimiert, schwächt nicht nur ihre Aktivist*innen. Er schwächt die Demokratie als Ganzes. Und wer Protest als „Erpressung“ diffamiert, hat nicht verstanden, was Demokratie bedeutet: dass Bürger*innen sich einmischen – laut, kritisch und manchmal auch unbequemer als den Reichen und Mächtigen lieb ist.
Eine Demokratie ohne störenden Protest ist keine. Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, sollte also nicht – angelehnt an den legendären Trainer von Bayern München, Giovanni Trapattoni – lauten: „Was erlauben Zivilgesellschaft?“ Die Frage muss jetzt sein: „Was können wir tun, um unsere Demokratie zu verteidigen?“
Ich glaube, ein wichtiger Teil der Antwort ist: Mehr Ungehorsam wagen.