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Sie nennen sich „Letzte Verteidigungswelle“ oder „Elblandrevolte“ – rechtsextreme Jugendgruppen sind auf dem Vormarsch. Szenekenner*innen warnen vor der Gewaltbereitschaft des rechtsextremen Nachwuchses, über die in diesem Jahr in vielen Medien ausführlich berichtet wurde. Doch das Phänomen ist nicht neu. Seit Jahren klettern die Zahlen gewaltbereiter Rechtsextremer in den Statistiken nach oben. 2024 erfasste der Verfassungsschutz 11,6 Prozent mehr rechte Gewalttaten als noch im Jahr zuvor. 

Rechtsextremismus ist die mit Abstand größte Bedrohung – und das schon seit Jahrzehnten. Dazu trägt ein gesellschaftliches Klima bei, in dem die Abwertung von Menschen, zum Beispiel aus rassistischen oder queerfeindlichen Gründen, immer weiter normalisiert wird. Auch der Erfolg der rechtsextremen AfD zeigt, dass die Grenzen des Sagbaren – und damit auch die Grenzen des Machbaren – immer weiter verschoben werden. Durch die rhetorische Entgrenzung fühlen sich rechtsextreme Gewalttäter*innen zunehmend legitimiert und bestärkt. Und immer wieder endet diese Gewalt tödlich. 

Was die Statistik unterschlägt

Auffällig ist: Insbesondere wenn es um rechte Gewalt mit Todesfolge geht – also Morde mit einem rechtsextremen Hintergrund – gehen die Zahlen journalistischer Recherchen und offizieller Statistiken deutlich auseinander. Eine Recherche der Zeit deckte im Juli auf, dass seit der Wiedervereinigung mindestens 203 Menschen von rechtsmotivierten Täter*innen getötet wurden. Das sind mindestens 86 mehr, als in den offiziellen Behörden-Statistiken ausgeführt werden. 

Die Journalistin Gilda Sahebi und Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt dokumentieren von 1990 bis 2003 sogar 240 Fälle rechtsextrem motivierter Gewalt mit tödlichen Folgen. Ihren Recherchen zufolge sind seit Gründung der Bundesrepublik 347 Menschen getötet worden, weil sie nicht in das menschenfeindliche Weltbild der Täter*innen passten. Warum also tauchen so viele Opfer nicht in den offiziellen Statistiken auf?

Wann ist ein Mord rechtsextrem motiviert?

Für die Diskrepanz zwischen den Statistiken und journalistischen Recherchen gibt es mehrere Gründe. Ausgangspunkt ist oft die Frage: Wann gilt ein Mord als rechtsmotiviert? Politisch motivierte Gewalttaten werden einmal im Jahr vom Bundeskriminalamt in der Statistik zu „Politisch motivierter Kriminalität“ veröffentlicht. Die Beamt*innen erfassen hier Straftaten in fünf Kategorien: rechtsextrem, linksextrem, ausländische Ideologien, religiöse Ideologien und „Sonstige“.

In den vergangenen Jahren wurde mehrfach reformiert, was genau unter „Politisch motivierter Kriminalität“ zu verstehen ist – wann also die Behörden eine Tat als politisch motiviert einstufen. Diese Definition wurde zuletzt 2024 angepasst und deckt umfassend ab, aus welchen Gründen Menschen Opfer rechtsextremer Täter*innen werden: “wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie […] sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale […] richten oder […] gegen eine Person wegen ihrer/ihres zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements gerichtet sind bzw. unmittelbar aufgrund von Vorurteilen des Täters bezogen auf Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, physische und/oder psychische Behinderung oder Beeinträchtigung, Geschlecht/geschlechtliche Identität, sexuelle Orientierung oder äußeres Erscheinungsbild begangen werden“.

Das Problem ist also nicht in der Theorie zu suchen – sondern in der Praxis. Denn eine gute Definition nutzt wenig, wenn sie nicht systematisch angewendet wird. 

Neue Realitäten, alte Stereotype

Die Zeit nennt mehrere Gründe, warum die offiziellen Statistiken bei der Erfassung rechter Todesopfer so danebenliegen. Da wären prozedurale Schwierigkeiten: Polizist*innen müssen schon zu Beginn der Ermittlungen einen möglichen politischen Hintergrund angeben, selbst wenn die Motive noch unklar sind. Zum anderen prägen veraltete Vorstellungen, was ein rechtsextremes Motiv ausmacht, die Einschätzungen.

Einerseits sind bestimmte Elemente rechtsextremer Ideologie leichter identifizierbar als andere: Den meisten ist bekannt, dass rechte Gewalt oft rassistisch motiviert ist und sich gegen migrantisch gelesene Menschen richtet. Weniger offensichtlich ist ein mögliches politisches Motiv dagegen bei Angriffen auf Obdachlose, obwohl auch der Sozialdarwinismus – die Abwertung sozial Schwacher – ein Element rechtsextremer Ideologie ist. In den Ermittlungsbehörden scheint es, so die Zeit, ein recht klares Bild davon zu geben, wie ein „typischer“ rechter Angriff aussieht und wie nicht. 

Andererseits sind Ermittlungsbehörden selbst nicht frei von rassistischen Vorurteilen. So wurden nach den Morden des NSU die Täter*innen zunächst in der migrantischen Community gesucht. Auf die Idee, dass die Taten von Rechtsextremist*innen verübt worden seien, kamen die Ermittler*innen lange gar nicht.

Weg vom „klassischen“ Täter

Noch schwieriger wird es, einen Mord als rechtsmotiviert einzustufen, wenn kein klares, eindeutiges Motiv vorliegt. Bei der Einstufung von Tötungsdelikten müssen die Behörden eine Grenze ziehen: Ab wann kann man sicher sagen, dass rechtsextreme Ideologie ein wesentlicher Grund für den Angriff war? Oft mischen sich bei den Taten verschiedene Motive, auch psychische Erkrankungen können eine Rolle spielen. Das kann dazu führen, dass eine Gewalttat nicht als rechtsmotiviert beschrieben wird – obwohl sich psychische Erkrankungen und rechtsextreme Ideologie nicht ausschließen, wie die Morde von Hanau zeigen.

Ähnlich uneindeutig sieht es bei den zunehmenden Gewalttaten aus dem Reichsbürgermilieu aus. Obwohl Reichsbürger*innen immer wieder mit Gewalt auffallen, wird der rechtsextreme Hintergrund dieser Ideologie bei der Einstufung der Taten oft nicht entsprechend berücksichtigt, weil sie sich dem „Normalfall“ rechtsextremer Taten entziehen. 

Dabei hält der „klassische“ Typus des rechtsextremen Täters einem Realitätscheck oft nicht mehr Stand: Der Neonazi mit Bomberjacke, der in Szenetreffs abhängt und neonazistischen Kameradschaften angehört, ist ein Ausnahmefall. Viele Täter radikalisieren sich heute allein im Netz, ohne in klassischen rechten Milieus verwurzelt zu sein. Das Ermittler*innen sich mitunter schwer tun, in solchen Fällen ein rechtsextremes Motiv zu identifizieren, zeigt der Mord an neun Menschen im Münchener Olympia-Einkaufszentrum 2016. Obwohl relativ schnell deutlich wurde, dass der Täter rassistischen Überzeugungen anhing und den rechtsextremen Attentäter von Utoya bewunderte, dauerte es Jahre, bis die Tat auch offiziell als rechtsmotiviert eingestuft wurde. 

Es geht nicht nur um die Statistik

Das Beispiel München zeigt, warum die Frage danach, wer in den offiziellen Statistiken zu rechtsmotivierten Gewalttaten auftaucht, nicht nur eine Formalie ist. Für die Angehörigen der Opfer ist es zusätzlich belastend, wenn ein rechtes Motiv nicht als solches erkannt wird. 

Dass auch offizielle Stellen anerkennen, warum ihre Liebsten sterben mussten, kann den Freund*innen und Familien der Opfer bei der Verarbeitung des Geschehenen helfen. Denn leider werden Angehörige viel zu oft nicht ernstgenommen, wenn sie rassistische, queerfeindliche oder antisemitische Motive benennen und einfordern, dass diese auch in den Ermittlungen Eingang finden – wie es auch beim Brandanschlag von Solingen der Fall war.

Wenn menschenfeindlicher Hass und Abwertung nicht gesehen, sondern als „unpolitisch“ bagatellisiert werden, ist die implizite Botschaft an marginalisierte Gruppen: Eure Sicherheit ist keine Priorität. 

Die neuen NSU-Prozesse finden aktuell nur wenig Beachtung. Andreas Speit schaut sich an, woran das liegen könnte:

Doch auch aus einem formalen Grund ist es wichtig, wie die Statistiken zu politisch motivierter Kriminalität geführt werden. Denn akkurate und verlässliche Statistiken sind eine notwendige Grundlage für die Lagebilder und Gefahrenanalysen, auf denen aufbauend die Polizei ihre Arbeit plant – und die die Politiker*innen nutzen, um Prioritäten zu setzen. Wird das rechte Gewaltpotential systematisch unterschätzt, ist es unwahrscheinlicher, dass sie die notwendigen Ressourcen aufwenden, um das Problem politisch zu bekämpfen. 

Aufarbeiten, besser machen

Was also sollte passieren, damit rechtsmotivierte Morde auch als solche gesehen und ernstgenommen werden? 

Erstens müssen rechtsmotivierte Gewalttaten systematisch auch als solche erfasst werden. Dazu braucht es gut geschulte Beamt*innen, die sich mit eigenen Vorurteilen und möglichen blinden Flecken auseinandersetzen. So entsteht ein genaueres Bild der Lage, wenn man auch vergangene Straftaten nochmals begutachtet, um aus alten Fehlern zu lernen. Wie es gehen kann, zeigt Brandenburg: Hier wurde ein externes Forschungsinstitut beauftragt, sogenannte „Altfälle“ mit möglichen rechtsextremen Motiven nochmals zu überprüfen. Dabei fand der dafür eingerichtete Expertenarbeitskreis heraus, dass viele Mordfälle durchs statistische Raster fielen, etwa weil sie nur erfasst wurden, wenn das rechtsextreme Motiv tatauslösend war – nicht aber, wenn es zwar nicht die einzige Ursache, aber dennoch ein wesentlicher Faktor für die Gewalt war. 

Zweitens sollte sich politische Motive auch bei der Verurteilung der Täter*innen niederschlagen. Eigentlich ist es im Strafgesetzbuch vorgesehen, dass die Gesinnung des Täters bei der Strafzumessung berücksichtigt wird. In der Praxis zeigt jedoch eine Studie aus Nordrhein-Westfalen, dass das nur in etwa einem Fünftel der Fälle tatsächlich passiert. Die Forscher*innen führen aus, dass die rechtsextreme Gesinnung von Gerichten vor allem in den Fällen anerkannt wird, in denen die Täter*innen dem „klassischen“ Bild eines Rechtsextremisten entsprechen. Dazu gehören zum Beispiel einschlägige Vorstrafen und Mitgliedschaft in rechtsextremen Gruppen oder Parteien. Das dieses Täter*innenbild oft nicht die Realität rechtsextremer Radikalisierung abbildet, haben wir bereits am Beispiel der Mörder von München und Hanau gesehen. 

Und drittens: Es muss endlich ankommen, welches enorme Gewaltpotential von Rechtsextremist*innen ausgeht. Und das ein bisschen Skalentrickserei das Problem nicht löst. Stattdessen braucht es Ressourcen für Prävention, für Demokratieförderung, für Bildungsarbeit. Denn jedes Opfer ist eines zu viel!

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Autor*innen

Victoria Gulde ist seit 2018 Campaignerin bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechtsextremismus setzt sie sich gegen die Normalisierung rechten Gedankenguts ein. Sie hat Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Internationale Beziehungen studiert. Für den Campact-Blog schreibt sie über Gedenktage und die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur. Alle Beiträge

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